Werke 1974 – 1991

Konzentration und Befreiung
Zu den neuen Arbeiten von Helga Gerken-Grieshaber

Der Rückblick über mehr als zwanzig Jahre intensiver künstlerischer Arbeit überzeugt ebenso durch Kontinuität wie durch Entfaltung. Es ist, als werde eine Spirale durchlebt, die nicht zum ersten Mal dort wieder ankommt, wo sie schon einmal war, jedesmal aber auf einem anderen, weiter gespannten Radius. Das Bild der Spirale impliziert ein Fortschreiten, das keinen Raum lässt für Stagnation. Zentrum und treibende Kraft dabei ist das immer neue Sich-Vergewissern der eigenen Existenz — womit zugleich zumindest ein Aspekt der erwähnten Kontinuität angesprochen wäre.

Auch wenn es sich bei diesen Bildern nicht um Selbstbildnisse im herkömmlichen Sinn handelt, erinnert die Unerbittlichkeit des Sich-Vergewisserns an die obsessive Konsequenz, mit der Künstler wie Dürer, Rembrandt oder auch van Gogh immer wieder in den Spiegel blickten, um reflektierend dem Wesen und Wandel ihres Daseins auf die Spur zu kommen. Dieses Innewerden verdichtet sich in den Zeichnungen von Helga Gerken-Grieshaber zu einer Bild-Botschaft, die gerade deswegen das Private und Subjektive weit hinter sich lässt, weil sie so authentisch, so kompromisslos der eigenen, individuellen Erfahrung verpflichtet ist.

Es ist ein physikalisches Gesetz, dass sich die Radien eines Kreises desto schneller drehen, je weiter sie sich vom Zentrum der Bewegung entfernen. Man sollte das nun einmal gewählte Bild von der Spirale sicher nicht überstrapazieren, aber Tatsache ist, dass die Entwicklung der Künstlerin in Richtung Beschleunigung weist. Vielleicht hat dies ja auch mit dem Älterwerden zu tun: Wohl keinem bleibt die Erfahrung erspart, dass sich das Karussell, auf dem wir rotieren, mit den Jahren immer schneller bewegt.

Der Vergleich zwischen den neueren und den älteren Arbeiten zeigt, dass die Dynamik zugenommen hat. Nicht dass Helga Gerken-Grieshabers Kunst je statisch gewesen wäre. Aber jetzt wird das Flüchtige, Transitorische doch ungleich stärker akzentuiert als dies früher der Fall war. Bezog sich die Bewegung bisher zumeist auf kompakte, konkret fassbare figürliche Vorlagen, die in Vibration versetzt, attackiert, bedroht, seziert, parzelliert wurden, so erscheinen die Figuren — oder das, was von ihnen geblieben ist — in den neuen Arbeiten befreit, weniger passiv, durchaus selber agierend. Sie schweben, taumeln, tanzen — getrieben oder sich selbst treibend? – aus dem Nichts ins Dasein und treten ebenso beiläufig wie sie erschienen sind wieder ab von ihrer nicht vorhandenen Bühne. Denn alle für die früheren Bilder so wichtigen Requisiten und Relikte einer illusionistischen Wirklichkeit sind jetzt verschwunden. Die Gestelle, die einst die Körper beengten – Helga Gerken-Grieshaber war stark beeindruckt von Bacon — sind eliminiert, das Weiß des Blattes ist nicht mehr nur Bildträger, sondern jetzt auch konstituierender Licht-Raum, ein Raum, in dem sich Energie materialisiert, keineswegs verwaschen esoterisch, sondern leibhaftig, greifbar, erotisch — und doch nicht eigentlich fassbar. Wirklichkeit wird als das artikuliert, was sie tatsächlich ist: Präsenz des Augenblicks.

Verschwunden ist alles, was artistischer Selbstzweck sein könnte, doch geblieben ist die unglaubliche Virtuosität, die Helga Gerken-Grieshaber im Umgang mit den künstlerischen Mitteln an den Tag legt. Dass diese Mittel vor allen anderen die der Zeichnung sind, kann nicht verwundern: Die Zeichnung, der unmittelbare Niederschlag körperlicher Bewegung, gestischer Expression, ist die wohl elementarste Form künstlerischer Mitteilung überhaupt.

Malerei spielt im Gesamtwerk der Künstlerin eine eher beiläufige Rolle, doch setzt Helga Gerken-Grieshaber das Medium Zeichnung ausgesprochen malerisch ein: Sie geht bis an die Grenzen der technischen Möglichkeiten, doch immer bleibt sie im Bereich ihres Metiers, immer bleibt die Linie Ausgangspunkt der Gestaltung. Die Spannweite des Mediums reicht dabei von feinsten Nuancen bis zu harten Kontrasten. Nichts davon hat Helga Gerken-Grieshaber aufgegeben. Die Reduktion, die für die neuesten Arbeiten charakteristisch ist, bedeutet nicht Beschränkung, sondern ganz im Gegenteil Konzentration und Befreiung. Überraschende Farbakzente erweitern das Repertoire der Gestaltungsfaktoren: Sparsame, aber körperhaft vitale Farben kommen zum Tragen, ein hautnahes Gelbbraun, ein flammendes Rot („mein Rotschopf“), aber auch ein kühles Blau, dessen Weite eine erstaunlich „intakte“ Figur hinterfängt, die den Auftakt zu einer Bildreihe bildet, in der das Thema Figur und Raum vielfältig interaktiv variiert wird.

Vielleicht ist es hilfreich, doch wenigstens kurz den Weg zu skizzieren, der zu diesen neuen, freien, souveränen Arbeiten geführt hat: Die Bilder, die in den sechziger Jahren, während der Akademiezeit, entstanden, verrieten noch stark den Einfluss des Lehrers, die Anregung durch die nervöse, dynamische, der Abstraktion nahe, doch nie sich völlig vom Gegenstand lösende Handschrift Herbert Kitzels. In der zweiten Phase, in den um 1970 entstandenen Bildern, konkretisierten sich große, klare, organischanatomische Formen zu einer dichten, nahsichtigen Füllung der Bildfläche. Der Raum wird verstellt, der körperlich-plastische Aspekt dominiert über die Fläche. Die Bezugnahme auf den Menschen wird, gegenüber den früheren Arbeiten, demonstrativer, verbindlicher.

In den Bildern der Mitte des Jahrzehnts geht die Künstlerin auf Distanz. Aus dem ausschnitthaften Großbild entsteht die raumgreifende Momentaufnahme. Ein Augenblick, ambivalent und alptraumhaft, wird festgehalten. Figuren drängen sich in die Ecke, gespült wie Strandgut, ans Gitterbett gefesselt oder zwitterhaft-janusköpfig einander verhaftet in einer caravaggesken Chiaroscuro-Szenerie, in der zeitweilig das Motiv einer elektrischen Lampe nicht allein als formaler, sondern auch als inhaltlicher, nämlich technoider Gegenpol zum Kreatürlichen eingesetzt wird. Die achtziger Jahre präzisieren und pointieren. Die inhaltliche Dimension gewinnt an Bedeutung. Subjektive Erfahrung wird zum Paradigma des Sozialen, zum Ausgangspunkt auch politischer Stellungnahme: „Meinen Kopf setz‘ ich mir selber auf“, proklamiert die Künstlerin forsch, und sie konfrontiert ausgeschnittene bunte, im gegebenen Kontext freilich lächerlich blutleer wirkende Pin-up-Motive ironisch als Collage-Elemente mit kraftvollen, weiblichen Körperlandschaften. In anderen Blättern zwingt eine Stahlfeder die Schenkel auseinander, der taumelnden, haltlosen Figur wird Gewalt angetan. Im Bild körperlich spürbarer Brutalität, ausgelöst durch ein fühlloses, anonymes Instrumentarium, wird subtile Verletzung zum Ausdruck gebracht: „von der Zeit vergewaltigt“ fühlt sich gewiss nicht nur die Frau…

Die achtziger Jahre sind dem Tier gewidmet. Das Porträt des Hengstes entspricht keineswegs den Klischee-Vorstellungen, die man sich gemeinhin von edlen, anmutigen Pferdegesichtern macht.

Im Gegenteil: Dunkel, riesig und bedrohlich füllt, ja sprengt das Tiergesicht das Blatt. Nervös tastet die hell-dunkel flirrende Zeichnung das Motiv ab. Fremd, dämonisch, zähnebleckend, aufgelöst bis fast zur Unkenntlichkeit, mitunter fast wie seziert wirkend, dabei aber präsent in faszinierend vitaler Monumentalität, begegnet die Kreatur als provozierendes Gegenüber. Wenig später werden die so erarbeiteten Gestaltungsmittel schonungslos auf das menschliche Konterfei übertragen, wird die Brücke geschlagen zum Kreatürlichen, das Mensch und Tier aneinander bindet. Diesmal handelt es sich eindeutig, wenngleich kaum schmeichelhaft, um Selbstporträts. „Lächelhilfen“ führen zu makabren Grimassen; das Gesicht zerfällt, erstarrt zur Totenmaske, zersetzt sich zu einer bizarren Landschaft grafischer Kontraste, in der jede Integrität, jede Individualität ausgelöscht ist.

Dem düsteren Chaos solcher Bilder erwachsen schließlich die eingangs beschriebenen neuen Arbeiten als durchaus ambivalente, aber befreite, lichte Visionen eines Lebens, das um das Dunkel weiß, dem die Abgründe nicht mehr fremd sind.

Hans Gercke, Heidelberg, im Oktober 1992

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