Werke bis 2018

Das künstlerische Schaffen von Helga Gerken-Grieshaber erstreckt sich bis zum heutigen Tag über vier Jahrzehnte und berichtet von tiefgreifenden Veränderungen im Ausdruck, ohne dabei den Widererkennungswert verloren zu haben. Die neuen Werkzyklen, die sich zeitlich und inhaltlich miteinander verschränken, machen sich den Weg zu Leinwand und Papier zum Thema, hinterfragen gesellschaftliche Konstrukte und finden in Selbstironie und Bodenständigkeit eine erfrischende Unaufgeregtheit im Umgang mit dem eigenen Künstlerdasein. Helga Gerken-Grieshaber schafft den Grenzgang von tiefgehender Reflexion emotionaler Zustände und klarsichtiger Ehrlichkeit, führt einen offenen Dialog mit dem Betrachter, nimmt kein Blatt vor den Mund, wodurch sie ihren Werken eine schonungslose Zugänglichkeit verleiht.

In ihrer Werkserie runter mit den Klamotten setzt sich Helga Gerken-Grieshaber mit tagesaktuellen politischen Debatten auseinander. Die Verhüllung von weiblichen Körpern aufgrund religiöser Vorschriften, um Reinheit zu bewahren und Versuchung zu vermeiden, tritt komplexe Debatten im Hinblick auf die weibliche Emanzipation los. So erlebte die Künstlerin die alltägliche Absurdität einer solchen Verschleierung auf ihren Reisen zum Beispiel beim Frühstück: Der Stoff wurde vor dem Gesicht in einem spitzen Winkel angehoben, um das Essen zum Mund zu führen; die Augen blickten durch ein Gitter und die Männer saßen in weißen Unterhemden neben ihren verschleierten Frauen beim wärmenden Kamin. Der Kontrast zum eigenen Leben, die Möglichkeiten der Selbstdefinition und -bestimmung, lösten bei Helga Gerken-Grieshabere einen inneren Aufschrei aus, den sie als Impuls für eine künstlerische Verarbeitung nutzte.

Die dahinterstehenden, komplexen Wertehierarchien, die durch mehr oder weniger Stoff an Frauen herangetragen werden, bestimmen in unterschiedlicher Intensität die weibliche Freiheit. Das komplette Verschwinden des femininen Geschlechts unter einem Gewand ist gesetztes Extrem und für die westliche Welt ein kompliziertes Bild. Und so sehr man sich hierzulande mit Modernität rühmt. sind ein kurzer Rock schnell eine allgemeingültige Einladung zum Anfassen und rote Lippen sowieso zum Küssen da. Helga Gerken-Grieshaber greift diese Ambivalenzen gesellschaftlicher Unterdrückung sensibel auf und bettet sie in das Chaos, das sie erschaffen. Jeder Strich, jede Fläche kämpft um ihre Existenz, wird durchbrochen, schraubt sich weiter, verfranst auf der freien Bildfläche der Leinwand, findet zum malerischen Korpus zurück. Ein lasierender Schatten in pastellenem Schwung trägt die Dynamik der grafischen Stilistik weiter, bringt aber auch die Ruhe, um die figürlichen Konturen auszumachen, die aus der Farbverdichtung erwachsen. So lässt Gerken-Grieshaber zu, dass der Betrachter in ihrer Abstraktion das findet, woran er sich festhalten kann: die menschliche Figur. Auch in ihrer Fragmentierung bietet diese die Möglichkeit der Identifikation, des Wiedererkennens. In diesem Erkenntnisprozess wird der namensgebende Aufruf laut — runter mit den Klamotten, als Appell zur Revolte gegen die bestehenden Mechanismen von weiblicher Unterdrückung.

Die emotionalen Landschaften Helga Gerken-Grieshabers implodieren, ohne dabei den Zugang zum Bild zu verschließen. Mit der unmittelbaren Offenheit im Umgang mit dem Medium Zeichnung an der Grenze zur Malerei schöpft sie die jeweiligen Potentiale zugunsten einer direkten Kommunikation aus. Diese Direktheit wird durch die Integration von Stoffen inhaltlich und technisch weiter ausgereizt. Das Stück vom Schlafanzug, ein feiner Tanga und Pelzstücke eines Mantels interagieren mit den abstrakten Bildmomenten, rahmen die menschlichen Konturen oder dienen selbst als Medium, um Farbe auf die Leinwand aufzutragen. Ihre Alltäglichkeit vermittelt einen hohen Grad an Intimität, an Dokumentation der Persönlichkeit, wobei diese Collage-Technik nicht mit der Intention eines Selbstporträts verwechselt werden sollte. Die Auseinandersetzung mit den inneren Belangen hat zwangsläufig Einfluss auf den künstlerischen Ausdruck, dient aber keiner Zurschaustellung privater Konflikte. Helga Gerken-Grieshabers Anliegen richtet sich an das Medium in Relation zu Inhalten, die einen Anstoß zum Schaffen bei ihr auslösen. Hierbei muss die thematische Richtung nicht von politischer Brisanz getrieben sein, sondern orientiert sich in gleicher Intensität an den eigenen Bedürfnissen: „Und so habe ich mir herausgenommen, etwas Lockeres zu machen, das Lustige und Ironische an mir und meiner Kunst zum Thema zu machen“, berichtet Helga Gerken-Grieshaber. Die Serie der ICH-Bilder reflektiert auf verschiedenen Ebenen emotionale Zustände, wobei Ernsthaftigkeit, Sarkasmus und Selbstironie Hand in Hand gehen.

Die Serie der ICH-Bilder verschränkt sich mit den Werken der Schuh-Attacken sowohl motivisch als auch inhaltlich. Eine humoristische Komponente kippt hier gerne ins Surreale, sodass ein mutierter High Heel seine Zähne bleckend in ein Knie beißt, unnachgiebig in eine weiche Wade bohrt und sich vom abstrakten Farbteppich elegant abhebt. Die freie Form- und Richtungsfindung dient als stilistisches Fundament und verdeutlicht die Bezogenheit der Werkgruppen untereinander. Überraschend konkret erscheint das Wort ICH im Rahmen beider Serien in schwarzen Versalien mal mehr, mal weniger vordergründig. Das Wort dient zur Vergewisserung, Konzentration und als Halt zugleich, erinnert im Schaffensprozess an die intendierte Reflexion, des Wiedererkennens der eigenen Vorstellungen mit dem Wahrgenommenen.

Die Offenheit im Umgang mit dieser Dynamik ist Helga Gerken-Grieshaber ein zentrales Anliegen, ohne dabei künstlich zu dramatisieren. Trotz des emotionalen Tiefgangs entziehen sich die Arbeiten einer Theatralik und bleiben nahbar, greifbar. Der Betrachter kann, darf und soll daran Teil haben, muss aber mit der Intensität des Dialogs zurechtkommen. Helga Gerken-Grieshaber hat an ihrer Stärke und Direktheit in den letzten Jahrzehnten nichts eingebüßt, was an Strich und Farbe abzulesen ist, weshalb diese Wiederkehr in vielerlei Hinsicht nur als Gewinn gedeutet werden kann.

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